Ostsee-Umrundung | gesamt 7.097 km
Sölvesborg (SWE) – Ystad (SWE) | Tag 91 | heute 125 km
Morgens beim Frühstück spreche ich zunächst lange mit Ken über verschiedene Fahrräder und Radtouren. Er stammt aus Kanada, ich hatte mich schon gewundert, dass ein Schwede so gesprächsfreudig ist, denn das ist eher selten. Normalerweise beantworten sie deine Fragen, aber das muss reichen. Smalltalk ist nicht ihre Stärke.
Ken gibt mir Tipps für Kopenhagen, was ich mir am besten anschauen kann. Bornholm würde er zumindest bei dem gegenwärtigen Wetter auslassen. Morgen in Ystad muss ich mich für oder gegen Bornholm entscheiden. Eigentlich ist die Insel seit 2019 Teil des Eurovelo 10, in meiner eigentlichen Planung 2018 war sie jedoch noch kein Bestandteil. Vielleicht ist sie mehr einen Urlaub zur schönen Sommerzeit wert, denn sie soll alle schönen Eigenschaften von Skandinavien auf sich vereinen. So würde ich die 115 km Rundreise wahrscheinlich nur unnötig gehetzt bei kaltem Wetter abradeln, und alle Cafés und viele Sehenswürdigkeiten hätten geschlossen. Meine Erfahrung ist: Inseln muss man genießen!
Um Punkt 10 Uhr stehe ich im Fahrradgeschäft, und gehe während der Reparatur einen Cappuccino trinken. Dabei kann ich in Ruhe die letzten Kommentare beantworten, und eine besonders herzliche Nachricht und Spende einer früheren Kollegin. Sie hat es geschafft, viele meiner schönen Tourstationen in einem berührenden Text zusammenzufassen. Danke, Pia!
Auf eines kann ich mich in den letzten acht Wochen seit Finnland meist verlassen: Dass der Wetterbericht für den nächsten Tag nicht stimmt. So ist es auch heute, und statt der angekündigten drei Stunden wenig Regen am Nachmittag soll es nun den ganzen Tag bis 17 Uhr mäßig regnen. Was habe ich für Alternativen? Ich kann nur einen Tag in der kleinen Stadt bleiben, der mir dann in der Planung fehlt, oder mit dem Rad weiter durch den Regen fahren Richtung Ystad.
Ich hole mein Rad mit neuem Mantel ab. Der Mechaniker sagt mir, dass ich das mit der Zentrierung gut hinbekommen habe. Wir müssen die Spannung meines Antriebsriemen noch einmal gemeinsam nachjustieren, so etwas hat er selber noch nie gesehen und wusste daher nicht, dass er so stramm sitzen muss. Genauso, wie Rohloff Naben hier in Schweden vollkommen unüblich sind, besonders in der Kombination mit einem Gebla-Konverter. Bei meiner Probefahrt stelle ich fest, das es tatsächlich am Mantel gelegen hat, und das Fahrrad nun wieder glatt läuft. Wir begutachten noch einmal den alten Mantel, und können deutlich sehen, dass die Felge ihm durch das hohe Gewicht schwer zugesetzt hat. Man kann ihn teilweise schon etwas im Material auseinanderziehen.
Zurück beim Hotel Edgar entscheide mich für den Regen, krame alle Regensachen wieder raus und fahre in voller Montur los, nachdem ich mich herzlich von Ken verabschiedet habe. Er hat eine ganz besondere Art mit seinen Gästen umzugehen, ich fühlte mich sofort angekommen. Ohne ein Wort zu sagen hat er mir ein Zimmer mit Dusche gegeben, obwohl ich nur Gemeinschaftsbad gebucht hatte. Er macht das immer so, wenn es frei ist. Ein feiner Kerl.
Ich muss sie mir dann doch noch ansehen, Europas längste Radfahrer- und Fußgängerbrücke. Im strömenden Regen fahre ich also die 756 Meter einmal hin und zurück. Regentropfen benetzen die Linse meiner Kamera.
Dann geht es endlich los. Es ist schon 12.30 Uhr, so spät bin ich lange nicht los, und das bei dem heutigen Ziel Ystad mit 115 Kilometern. Jetzt sind es mit Brücken-Umweg schon 118.
Was kann einem Radreisenden das Leben schwer machen? Regen – check, es regnet. Gegenwind – check, mäßiger Gegenwind aus West. Zeitverzug – check, nach der Reparatur bin ich ultraspät dran. Höhenmeter – check, in der Mitte der Tour geht es plötzlich innerhalb von 4 Kilometern auf 180 Höhenmeter hinauf in die Hügel.
Um 14 Uhr liege ich erst bei 30 Kilometern. Schlecht für die Psyche, normalerweise muss ich zu dem Zeitpunkt die Hälfte meines Tagessolls erfüllt haben. Ich liege aber erst bei einem Viertel. Meine treuen Begleiter, die Wildgänse, tauchen wieder auf, in Scharen sitzen sie auf den Äckern oder ziehen über mir ihre Bahnen. Ich summe die Melodie von „Nils Holgersson“ vor mich hin, während ich ihnen sehnsüchtig nachsehe, wie sie einfach die Luftlinie nehmen, während ich kilometerlange Umwege durch den Regen fahren muss.
Meinen Frieden mit den Gänsen stört lediglich ein militärisches Sperrgebiet bei Rinkaby, an dem ich vorbeikomme. Soldaten in voller Montur und Straßensperren aus Bäumen sagen mir, dass es gerade aktiv genutzt wird. Und tatsächlich, kurze Zeit später höre ich Maschinengewehrsalven und schwerere Schüsse. So muss es sich im Krieg anhören, den ich zum Glück nie erleben musste.
Das Gelände wird aber auch friedlich genutzt, aktuell grast Weidevieh dort, 2011 gab es hier ein großes Pfadfindertreffen mit 40.000 Teilnehmern, das ‚World Scout Jamboree‘. Ich lege eine kurze Pause ein.
Nils Holgerssons Schloss
Weiter geht es durch den Regen, und wie aus dem Nichts taucht bei Vittskövle plötzlich ein Schloss auf: Es ist das Schloss Vittskövle aus dem 16. Jahrhundert, 20 Kilometer südlich von Kristianstad gelegen. Das Besondere: Das Schloss wird im dritten Kapitel von Selma Lagerlöfs “ Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ beschrieben. Das Schicksal hat mich wohl die Melodie Summen hören! Wohlgemerkt, es ist nicht meine eigentlich Route, ich kürze heute ein paar Kilometer ab, um nicht noch mehr Kilometer fahren zu müssen.
Um 16:37 habe ich erst 60 Kilometer erreicht. Wie soll ich heute noch mein Ziel erreichen? Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne blitzt durch die Wolken. Begeistert rufe ich einer entgegenkommenden Radfahrerin zu: „Sunshine!“. Ich glaube, sie kann meine Begeisterung nicht nachvollziehen. Aber wenn du den ganzen Tag durch Regen gefahren bist, sind die ersten Sonnenstrahlen wie ein Wunder.
Es wird langsam dunkel, und ich beginne mir Sorgen um eine Unterkunft zu machen. Der Untergrund ist tropfnass, weiterhin ist Zelten nicht meine Traumalternative. Bis Ystad sind es noch 40 Kilometer über schmale Straßen. Meine Frau sucht von zu Hause nach Unterkunftsmöglichkeiten an der Strecke und findet schließlich ein Bed and Breakfast, das über die Plattform Booking zu buchen ist. Oft ist es bei solchen kleinen Unterkünften zu knapp zu buchen, wenn man fast vor der Tür steht. So fahre ich die zwei Kilometer vom Weg ab und klingel an dem Hof. Zwei große Hunde springen innen am Fenster hoch aber auch nach mehrfachem Klingeln öffnet leider niemand die Tür. So muss ich unverrichteter Dinge weiterfahren und habe nochmals vier Kilometer in den Beinen und 20 Minuten verloren.
Es ist dunkel geworden und im Licht meines Scheinwerfers fahre ich die dunklen Straßen entlang, vollkommen allein durch Wald und über Felder. Ich brauche wirklich dringend eine verlässliche Unterkunft, denn nun zieht auch noch Nebel auf.
Ich buche das letzte verfügbare Hotel, eigentlich zu teuer, aber irgendwo muss ich ja hin. Vier Kilometer vor der Küste nach Ystad habe ich immer noch 150 Meter Höhe auf meinem GPS stehen und freue mich auf eine rasante Abfahrt. 500 Meter vorher sind es immer noch 130 Meter und ich beginne mich zu fragen, ob es hier eine Steilküste gibt. Als ich an der Küste ankomme, geht mein erster Weg einen schmalen Weg direkt zur Küste. Mit der Taschenlampe gehe ich die letzten paar Meter und stelle fest: Keine Steilküste, mein GPS ist einfach auf der Höhe hängen geblieben.
Aber ich vernehme ein Geräusch, das ich lange nicht mehr gehört habe. Das immer wiederkehrende Rauschen der Wellen der Ostsee. Seit Estland, also seit vielen tausend Kilometern und Wochen, habe ich es vermisst. Der nördliche Arm der Ostsee entlang Finnland und Schweden ist durch die vorgelagerten Schäreninseln so sehr vor dem Wellengang geschützt, dass die Ostsee in diesen Bereichen meist eher wie ein ruhiger See anmutet. Das hat durchaus auch seinen Reiz, aber das Geräusch der Wellen und der würzige Geruch der See haben mir wirklich gefehlt.
Ankommen in Ystad
Als ich schließlich in Ystad bin, sehe ich die Fähre nach Bornholm und auch nach Polen. Swijnemünde, schießt es mir in den Kopf, so nah! Dort stand ich mit Tristan und habe die Fähre gesehen, die jetzt hier liegt. Traurig denke ich, wie schön es wäre, wenn er jetzt hier dabei wäre, denn es ist ein Moment, wo mir kurz ins Bewusstsein schießt, wie weit ich gefahren bin.
Es ist 21 Uhr, als ich nach 125 Kilometern am Hotel ankomme. Die Rezeption ist zu dieser Zeit nicht mehr besetzt und ich finde an der Tür ein Gerät zur Code-Eingabe. Diesen habe ich noch nicht bekommen, also wähle ich eine Telefonnummer, die dort notiert ist. Eine freundliche weibliche Stimme meldet sich, und innerhalb kurzer Zeit stehe ich im Eingangsbereich mit einem Blick in den gemütlichen Frühstücks-und Aufenthaltsraum, der mit kleinen Lampen warm beleuchtet ist. Wie wohltuend nach diesem langen anstrengenden Tag.
Ich bringe rasch mein Gepäck aufs Zimmer, und schnappe mir mein Rad, um noch etwas zu essen zu finden. Das ist um 21:35 Uhr nicht ganz so einfach, denn um 22 Uhr schließen alle Restaurants. Aber ich finde ein Restaurant, dessen iranischer Inhaber mir freundlich zunickt, dass ich noch eine Pizza bekommen kann. Notfalls hätte ich auf meine Notrationen zugegriffen, die ich einfach mit heißem Wasser aus dem Frühstücksraum hätte aufschütten können.
Erst jetzt realisiere ich, dass ich im Regen bei Tageskilometer 28 einen Meilenstein erreicht habe: 7.000 Kilometer! Ich hatte es zwar vorher ausgerechnet, aber es ist einfach im Regen verwässert. Genauso wie der einhundertste Tageskilometer im Nebel untergegangen ist. Jemand zum Feiern da? Niemand, 6.000 Kilometer hatte ich noch mit Ludvig und Irene mit einer Umarmung gefeiert, ich weiß noch genau wo es war.
Blog? Nein, heute nicht mehr, um kurz nach Mitternacht schalte ich das Licht aus. Was für ein Tag.