Über die Sehnsucht nach Mee(h)r und unser Rollenverständnis
Zwei Wochen ist das Ende meiner viermonatigen Radreise um die Ostsee nun her. Die technischen Details habt ihr längst gelesen. Aber ich bin sicher, euch interessiert viel mehr, wie es weitergeht. Und wie es sich für mich anfühlt, nach so langer Zeit wieder zu Hause zu sein.
Radreise – und danach?
Rückblick: Der erste Morgen nach meiner Rückkehr. Ich wache auf und überlege, wie viele Kilometer ich heute fahren muss. Erst dann fällt mir ein, dass die Tour zu Ende ist. So stehe ich auf, frühstücke und genieße den Luxus eines Cappuccinos auf Knopfdruck. Meine Frau ist arbeiten. Ich gehe zum Computer und beginne mich beim Arbeitsamt zurückzumelden, bei dem ich mich vor fast 4 Monaten abgemeldet habe.
Moment! Irgendetwas fühlt sich nicht richtig an. Ich realisiere, dass ich sofort in meine alte Rolle zurückfalle. Taktung um jeden Preis!
Ich beschließe, dass ich noch Zeit brauche, um die Erlebnisse zu verarbeiten. 105 Tage auf dem Fahrrad mit all den intensiven emotionalen Erlebnissen gehen nicht spurlos an mir vorbei. Und so stehe ich wieder auf – und melde mich noch nicht zurück. Ich hätte auch drei Wochen länger Rad fahren können. Warum also setzte ich mich nur so sehr unter Druck?
Wir und unsere Rollen
Es ist erstaunlich, wie sehr wir alle in unseren Rollen stecken. Wer aber definiert die Ausgestaltung unserer Rollen? Stören dich Rollen, in denen du steckst, und kannst du jede Rolle einfach verändern?
Du wirst sicher sagen, dass du einiges nicht ändern kannst. Es geht auch nicht darum, alles zu verändern. Aber es geht darum, Dinge zu verändern, von denen du längst weißt, dass sie dich nicht glücklich machen. Du denkst, du musst fehlende Wertschätzung zum Beispiel im Beruf einfach akzeptieren? Du kannst sicher sein, dass du weder dir noch deinem Umfeld einen Gefallen tust, an solchen Dingen festzuhalten. Kurioserweise wird das gleiche Umfeld höchst irritiert sein, wenn du wagst es zu ändern – ganz besonders, wenn du es lange akzeptiert hast.
Mehr über Rollen, die Freiheit der Wegwahl und unseren Umgang damit findest Du auch im Gastartikel ‚RRG is coming home‚ von meinem geschätzten Freund DerSchulle.
So drehen sich die letzten zwei Wochen bei mir statt um Standard-Jobsuche vor allem um Familie und liegengebliebene Dinge. Ich spreche offen mit meiner Familie darüber, dass ich mich nicht sofort beruflich neu festlegen kann. Und spiele mit meiner Frau Szenarien durch.
Ich träume vom Radfahren
Nach nunmehr zwei Wochen setzt nun langsam eine neue Phase ein. Ich sehe Videos und Fotos anderer Radreisender, zum Beispiel meiner Begleiter in Schweden, Ludvig und Irene, die nun schon in Südfrankreich sind. Ich sehe die Vögel am Himmel, mit denen ich so lange gezogen bin und deren Rufe ich täglich erwidert habe und immer noch spontan erwidere. Ich träume vom Radfahren. Ich wache auf und sehe die Ostsee und den Horizont vor mir. Ich arbeite an meinem Blog, sehe die beeindruckenden Fotos einzelner Tage, als sähe ich sie das erste Mal. Ich spüre, wie eine warme Sehnsucht in mir aufsteigt und mich berührt. All das sagt mir, dass ich beginne die Tour zu verarbeiten.
Es ist gerade gut, hier bei meiner Familie zu sein. Ich habe keinerlei Tendenz, gleich wieder los fahren zu wollen. Aber es sind diese Dinge, die mir zu verstehen geben: Ich habe mich in ein paar Dingen verändert und möchte vor allem die gewonnene positive Sicht auf Dinge fest installiert wissen.
Der erste Morgen nach meiner Rückkehr war ein großer Gewinn für mich und mein Umfeld. Ich habe erkannt, dass ich gerade in eine alte Rolle zurückzufallen drohte. Das ist mir früher nicht gelungen, erst meine Radreise hat mir mit ihren zahlreichen Botschaften den Weg dazu geebnet.
Vielleicht ist das der Beginn neuer Möglichkeiten.
3 Kommentare
Hallo Bernd,
ich kann dich gut verstehen. War heuer gute 2 Monate unterwegs und damit zwar deutlich weniger als du, aber deine Beschreibungen und Gefühlslagen kenne ich auch. Ich werde auch kommendes Jahr wieder aufbrechen und deine Tour lacht mich grad richtig an. Vielleicht magst du mir mal bei Gelegenheit deine Tourdaten (GPX) zukommen lassen (johannes.schuller@web.de). Ich sehe momentan zwar nur einen Teil deiner Reise für mich machbar, aber das ist ja auch nicht das Entscheidede.
Aber keinen Stress, das hat wirklich Zeit.
Ich danke dir jedenfalls für diesen Artikel. Es tut immer gut zu wissen, dass man nicht der einzige „Spinner“ ist 😉
Beste Grüße Johannes
Lieber Johannes,
huch, da war meine Antwort weg, also schreibe ich sie nochmals. Danke für Deinen positiven Kommentar. Anfangs habe ich mich immer rechtfertigt, wenn mir unterwegs jemand sagte ich müsse ja schon verrückt sein. Brachte aber nichts, man hielt mich weiter für etwas verrückt. Na gut, dachte ich mir, die beste Antwort ist: „Ja, ich denke ich bin verrückt, und fühle mich gut dabei!“ Und ich freue mich immer, wenn andere ‚Spinner‘ auf meine Radreiseglück Seite finden oder mir über den Weg fahren.
Die gpx Daten meiner Tour lade ich bei Gelegenheit hoch. Es wäre wünschenswert, wenn auch EuroVelo seine Strecken mit gpx versorgen würde.
Bis dahin immer genug Luft unter der Felge!
Radreiseglückliche Grüße
Bernd
Guten Morgen lieber Bernd, genau diese augenblickliche Phase der Besinnung und bewusst gelebten Entschleunigung ist jetzt soooooo wichtig. Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass Dein wunderbares RRG am Ende zwar ein tolles Abenteuer war, aber eben nicht der Türöffner und Auftakt zu einer wirklichen Neuausrichtung in Deinem Leben. Freue mich auf unser baldiges Wiedersehen?! LG