Radreise am fünftgößten See Europas | Gastartikel
Begegnung mit Karola
Stell dir vor du begegnest als Radreisender inkognito inmitten der mittelalterlichen estnischen Hauptstadt Tallinn bei einsetzendem Regen einer Radreisenden. Das Fahrrad in der einen Hand, das Handy in der anderen Hand am Ohr und hinter ihr der Vermieter ihres Appartments mit dem Versuch, sie in den schmalen Eingang zu lotsen.
So lernten wir im August 23 Karola kennen. Es blieben 60 Sekunden, um unsere Radreise-Begeisterung zu teilen. Und Karola auf ihrer etwas verzweifelten Suche nach einem Rückflug ohne verfügbaren Radkarton die Antwort zuzuwerfen:
„Air Baltic – Radtransport ohne Verpackung, nur Pedale ab und Lenker umlegen“
Dann gingen wir alle unseres Weges. Doch Karola hat sich Radreiseglück gemerkt. Etwa 3 Wochen später meldet sie sich mit einer herzlichen Danke-Email. Wir haben uns so sehr gefreut! Da wir wissen, dass sie am Peipus-See (estnisch Peipsi-Pihkva) unterwegs war, der bei unserer Reise etwas zu kurz kam, laden wir sie zu einem Gastartikel ein. Et voilà, hier ist er!
Karola, Musikerin aus dem Berliner Umland, nimmt einmal im Jahr eine Auszeit, um mit dem Rad (Deutschland, Osteuropa), einem alten Jeep (Armenien, Bergkarabach) oder zu Fuß (12 Himalaya-Reisen, Nordindien, Sibirien und Mongolei im Winter) zu reisen. Living without images, allein in großartiger Natur unterwegs zu sein, sprengt die Grenzen der Zeit.
Peipus-See – Legende und Mythos
Der Peipus-See, Legende und Mythos! Sergei Eisensteins Monumentalwerk über die Vernichtung des Deutschen und des Schwertbrüderordens 1242 kenne ich seit langem und habe die rekonstruierte Filmmusik von Sergei Prokofjew 2003 in Berlin und Moskau neu aufgeführt und seitdem oft gespielt.
In diesem Jahr nun führt mich meine Radreise endlich von Berlin an seine Ufer und weiter nach Narva und Tallinn.
Am 22. Juli starte ich in Tartu. Es ist regnerisch. Immer wieder suche ich unterwegs Schutz vor den heftigen, aber kurzen Schauern. Mit mir im Bushäuschen warten eine kleine Schwalbe, eine riesige Erdkröte und eine Ringelnatter. Wir sitzen gemeinsam und schauen hinaus durch den Regen auf eine grandiose Landschaft: Wiesen, Wälder, Moore, Schotterstraßen und Asphalt.
Unterwegs an der Zwiebelstraße
Am frühen Nachmittag erreiche in Varnja und erhasche einen ersten Blick auf den See. Bis zum Horizont nur Wasser. Der mit weißen Wolken bespickte Himmel erweitert die räumliche Dimension des Sees eindrucksvoll. Ich halte am Straßenrand, um bei einer alten Dame etwas Obst und Gemüse fürs Abendessen zu kaufen und wir kommen schnell ins Gespräch. Hier beginnt die „Zwiebelstraße“, ein traditionelles Siedlungsgebiet der Altgläubigen, die sich nach 1652 am See angesiedelt haben. Bis nach Sibirien war ich schon gereist, um Agafja Lykow, über deren faszinierendes Leben ich gelesen hatte, zu besuchen. Das Leben hier ist nicht einfach, berichtet die Frau. Sie versucht, ihre karge Rente durch den Verkauf der Gartenfrüchte etwas aufzubessern und lädt mich für den nächsten Morgen in die kleine Kirche ein, um an der Liturgie der Altgläubigen teilzunehmen.
Stille am Peipus-See
Dann erreiche ich meine heutige Übernachtung, ein kleines Boot am Ufer des Sees. Traumhafte Stille empfängt mich. Sie wird mich in den nächsten Tagen begleiten und man wird süchtig nach ihr. Eine Stille, die nicht nur die Abwesenheit von Geräusch beinhaltet, sondern viel tiefer geht. Wenn man sich ihr öffnet, fällt man, kann loslassen und wird demütig vor so viel Schönheit!
Das Wasser des flachen Sees ist warm und ich wage mich weit hinaus. Da irgendwo beginnt Russland. Auch dort war ich schon mit dem Rad unterwegs und Bauern haben Hunde auf mich gehetzt (aber das ist eine andere Geschichte…). Bis spät in die Nacht sitze ich am Ufer mit Blick auf den See und den bewegten Himmel. Vor 781 Jahren, am 5. April, hat Alexander Newski auf dem Eis gesiegt. Boar, dann war der See mit seinen 710 km² zugefroren? Im April, wenn bei uns schon alles blüht? Unvorstellbarer Winter!
Kirchbesuch
Am nächsten Morgen sind fünf alte Damen in der Kirche, ich werde freundlich aufgenommen. Die tiefe Religiösität und Ernsthaftigkeit, in der sie aus uralten und z.T. noch handgeschriebenen Büchern rezitieren und singen, ist beeindruckend. Weil die Melodien schlicht sind und einstimmig gesungen werden, kann ich schnell meine kräftige Altstimme einbringen und werde am Ende gefragt, ob ich denn auch nächsten Sonntag (nein, aber dann wenigstens nächstes Jahr?) wiederkomme. „Gern“, ist die ehrliche Antwort.
Dann radle ich los, immer an der Küste entlang, durch kleine Dörfer, über leere Straßen, vorbei an leeren Campingplätzen, auf bequemen Asphaltstraßen, die über weite Strecken mir ganz allein „gehören“. Kein einziger Reiseradler begegnet mir in dieser Woche.
Es gibt freundliche Begegnungen mit Menschen im Museum in Kalläste (die meisten Museen sind wegen der ausbleibenden Besucher geschlossen), am Strand in Mustvee oder in meiner Unterkunft in Lemmaku und unfreundliche in manchen Dorfläden und staatlichen Hotels.
Das Radeln ist kein Problem, die Routen sind gut ausgeschildert, es geht ohne Probleme entweder über Asphalt oder über Schotterstraßen durch Wälder. Mein „Müsing Sport off road“ und ich sind ein klasse Team. Ich rede mit ihm, es steht jede Nacht neben meinem Bett und auch, wenn ich bei 12% Steigung im dicksten Schotter mal schieben muss, gibt es keine einzige Panne.
Eine Woche später bin ich über Narva in Tallinn angekommen und noch immer erfüllt von der Stille und Weite der Landschaften. Die Reise wird mich durchs Jahr tragen.
Grenzen neu stecken
Es ist immer wieder gut, aufzubrechen, die Grenzen neu zu stecken und den Horizont zu erweitern. Raus aus unser täglichen Komfortzone und Sicherheit! Wieviel man noch aushält, wenn das erste „ich kann nicht mehr“ erreicht ist, habe ich in diesen Wochen wieder eindrucksvoll erfahren.
In einer Welt, deren Komplexität und Vielschichtigkeit beständig zunimmt, ist es wundervoll bereichernd, einfach unterwegs zu sein, Energie und Ruhe, Klang und Stille, Kraft und Feinheit!
Wie wortkarg oder wortgewandt man solch eine Reise dann auch beschreiben kann, nichts ersetzt die eigenen Erlebnisse, die Tage unterwegs, die Nächte allein in der Natur, die Abende voll Weite und Stille, den Geruch der Wiesen und des taufeuchten Getreides…Radfahren am Peipus-See: YEAH!
Ein sehr gelungener Artikel, wie wir finden – herzlichen Dank, Karola! Wart ihr schon einmal am Peipus See oder möchtet ihr dorthin? Schreibt es in die Kommentare!
© Map | NordNordWest, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons
Fotos | Peipus-See: Karola Elßner | Porträtfoto: Gela Megrelidze
Satellitenbild | NASA, Public domain