Ostsee-Umrundung | gesamt 7.791 km
Svendborg (DEN) – Gråsten (DEN) | Tag 99 | heute 106 km
Suppe. Mein erster Gedanke, als ich die Vorhänge zurückziehe. Was für eine Suppe. Eigentlich ist kein Regen vorhergesagt, aber die Straßen glänzen nass und Menschen mit Regenschirmen überqueren die Wege. Es ist noch nicht ganz hell, ich bin früh auf den Beinen, um meine Fähre nach Ærø zu bekommen. Das Frühstück ist in einem Raum mit abgeklebten Fenstern, vermutlich wegen Bauarbeiten vor dem Haus. Ich mag diese anonymen Hotelketten nicht, sie haben einfach keine Seele. Die Gäste passen oft gut hinein. Wenn ich nicht zelten kann, bevorzuge ich kleine ‚cozy‘ B&B Hotels, aber nicht immer sind sie zu finden.
Nach dem Checkout rolle ich die Straße durch Svendborg hinunter zum Hafen. Eigentlich habe ich genug Zeit, doch dann schließt sich eine Bahnschranke vor mir. Fast 10 Minuten dauert es, dann öffnet sie sich wieder – ohne dass ein Zug gefahren ist. Die wartenden Menschen passieren kopfschüttelnd die Gleise.
Dank Puffer reicht die Zeit aber noch. Die Fähre ist deutlich kleiner als die bisherigen, hier müssen LKWs und PKWs richtig rangieren, damit alle hineinpassen. Mein Fahrrad passt immer noch hinein. Wie viele Fahrräder wohl auf die Fähre passen würden?







Die 75 minütige Überfahrt nach Ærø nutze ich, um den Blog von gestern fertigzustellen. Auf der Insel angekommen überlege ich, noch einen Kaffee in dem kleinen Dorf Ærøskøbing zu trinken. Es ist aus dem 18. Jahrhundert, besonders unverfälscht und gut erhalten, mit engen Gassen und denkmalgeschützten Fachwerkhäusern.
Dann prüfe ich die Zeit, wann mich die Fähre vom 18 Kilometer entfernten Søby weiterbringt. Erschrocken stelle ich fest: In 55 Minuten!
Das wird eine enge Kiste. Mein erstes Rennen gegen die Zeit auf dieser Tour beginnt. Bekomme ich sie nicht, muss ich dort 4 Stunden auf die nächste Fähre warten. Also lasse ich Ærøskøbing mit Bedauern links liegen und trete ordentlich in die Pedale. Die Insel ist hügelig, immer wieder bringt es mich auf über 50 Meter Höhe. Nasse, teils grobe Schotterwege machen mich nicht schneller. Rasch beginne ich ordentlich zu schwitzen und ziehe die Regenjacke aus, es tröpfelt nur leicht. Ich kürze ab, wo abzukürzen ist. 4 Minuten vor der Ablegezeit erreiche ich schließlich außer Atem den Fährhafen. Mein Ticket der Hinfahrt gilt auch für die Weiterfahrt, so dass ich keine Zeit für einen Ticketautomaten brauche. Das war Ærø im Schnelldurchgang. Eine schöne Insel, kleine Straßen, kaum Autoverkehr. Nur 4 Autos sind mir entlang meiner Route begegnet.






So wollte ich die Insel eigentlich nicht erleben, ich habe während meines Rennens ernsthaft überlegt, einfach einen Tag hier zu bleiben. Aber es ist so verregnet, dass es sich nicht nach einem Inseltraum anfühlt. Eher nach einem Inseltrauma.
Mein Blick fällt auf eine Wanderin mit Hut. Wir kommen kurz ins Gespräch, sie ist aus Frankreich und war vier Tage auf der Insel unterwegs. Dann müssen wir auf die Fähre.
Alice, die Schmiedin
Im Gastraum der Fähre sehen wir uns wieder, und ich frage, ob sie lieber für sich bleiben möchte, oder ich mich zu ihr setzen darf. Ich bin herzlich willkommen, sie bietet mir ihre Äpfel an, die sie gerade aufschneidet. Alice ist Schmiedin und arbeitet aktuell in Belgien an einem Haus, das mit traditionellen Mitteln gebaut wird. Also zum Beispiel schmiedeeisernen Nägel. Sie arbeitet dort mit anderen für drei Wochen, dann sind wieder drei Wochen frei. Alice ist ganz erfüllt von ihrer Tätigkeit. Ich frage sie, wie sie zu ihrer ungewöhnlichen Berufung gefunden hat. Sie erzählt, dass es sie einfach fasziniert hat. Mit 18 ist sie dann durch Frankreich gereist und hat bei vielen Schmieden über die Schulter geschaut. Das Strahlen in ihren Augen erzählt so viel. Auch jetzt hat sie ihren Hammer dabei und hofft immer, anderen Schmieden zu begegnen.
Sie stellt auch mir die richtigen Fragen. Was ich bislang gemacht habe, warum ich meines Tour mit einem so disziplinierten Zeitplan fahre. Was ich danach machen werde. Ich erzähle ihr, dass meine Frau mir interessante Jobofferten zuschickt, es sich aber manchmal zu früh anfühlt. Wahrscheinlich muss ich die Tour erst verarbeiten, um einen freien Kopf zu bekommen, meint sie. Während ich erzähle, merke ich, wie sehr sie mich mich selbst reflektieren lässt. So geht unser Gespräch über die volle Fahrt bis zur Ankunft. Ungewöhnlich intensiv. Ich sehe solche Begegnungen und Gespräche als Geschenk.
Alice ist nicht so ein Medien- und Techjunkie wie ich, im Gegenteil. Deshalb gibt’s auch kein Foto für euch, nur eins fürs Familienalbum. Sie hat kein Smartphone – nur ein normales Mobiltelefon. Kein GPS – aber eine Landkarte. Internet nutzt sie alle paar Wochen, sie wird meinen Blog irgendwann mal lesen. Zusammen suchen wir im Aufenthaltsraum des Hafens für sie nach Sheltern an ihrem Weg und nach Flixbus Verbindungen nach Köln, wo sie einen Freund besuchen möchte. Ich biete ihr an, bei uns zu Hause zu übernachten, wenn sie in der Gegend eine Bleibe braucht.
Sie ist längst los und versucht per Anhalter weiterzukommen, als ich sie bergauf passiere. Ich rufe: „Just get on my bicycle, I can take you to Sønderborg!“. Sie schiebt mich lachend an und meint: „Now you have an E-Bike“! Alice, wenn Du dies liest: Danke für die eineinhalb Stunden guter Gespräche und Lachen!
Der Regen wird dichter, als ich zunächst südlich die Route fahre und nach zehn Kilometern Richtung Westen nach Sønderborg drehe. Meine Idee, ohne Regenhose auszukommen, muss ich bald begraben. Irgendwann ziehe ich meine nasse Hose einfach auf dem Radweg aus, stehe in Radunterhose im Regen, und streife die Regenhose über. Die nasse Hose packe ich einfach unter die Spanngurte auf meiner Hinterradtasche. Ist ja eh nass.
Immer wieder prüfe ich nach Sheltern am Weg. Aber es ist alles nass, Umgebung, Klamotten, Schuhe, und ich muss nicht an den letzten Tagen riskieren krank zu werden, zumal ich leichte Halsschmerzen über Nacht bekommen habe.
Ich passiere Sønderburg, hier ist alles sehr teuer, kaum eine Unterkunft unter 120 €, das ist definitiv zu viel. Ich passiere die Gedenkstätte und das Museum ‚1864‘. Hier fand 1864 der Krieg zwischen Dänemark und Deutschland statt. Das Gebiet Südjütland gehörte noch bis 1920 zu Deutschland.





So rufe ich in einer Unterkunft in Gråsten an, wo Preis/Leistung deutlich besser sind. Die Rezeption ist zwar ab 17 Uhr geschlossen, aber ich kann auch noch um 18 Uhr anreisen. Gerade noch im Hellen erreiche ich den 4.300 Einwohner Ort. Das Schloss Gråsten, nur 500 Meter entfernt, ist Sommerresidenz der königlichen Familie.

Nach meinem Gespräch mit Alice ist das Zimmer ein weiterer Lichtblick an diesem regentrüben Tag. Übrigens mein letzter kompletter Tag in Dänemark, morgen überschreite ich die Grenze in ein neues Land: Ich erreiche Deutschland!
4 Kommentare
Hallo Bernd!
Auf Deinen letzten Kilometern haben wir es endlich geschafft die Spende abzugeben! Schon lange geplant, doch immer vor sich hergeschoben….
Gutes Stichwort! Was schiebt man im Leben nicht so alles vor sich her…. die Zeit ist endlich! Also machen! Hierfür bist Du uns ein gutes Vorbild gewesen. Inwiefern wir dem Beispiel folgen können wird sich zeigen, aber auf jeden Fall werden wir noch mehr versuchen uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dich, Euch, den Block haben wir sehr gerne verfolgt! Danke! Wir wünschen tolle Restkilometer, ein gutes wieder zu Hause einfinden und freuen uns auf ein Wiedersehen! Herzliche Grüße von Andreas, Regina, Jakob und Theo
Lieber Andreas,
danke für Deinen tollen Kommentar! Ja, einfach mal machen ist eigentlich so einfach, wenn es nicht so schwierig schiene. Das Schwierigste daran sind die Blockaden, die wir uns selbst setzen. Denn schließlich sind wir es, die über alles in unserem Leben entscheiden. Schlimm wird es, wenn die anderen es tun und man sich dem ergibt.
Das, wofür wir uns entscheiden, sollten wir hingegen in vollen Zügen genießen und uns bewusst werden, wie wundervoll diese Entscheidungsfreiheit ist.
Ich freue mich, dass unsere Reise und mein Blog nicht nur für uns, sondern auch für euch Inspiration und Freude bietet.
Herzliche Grüße an Dich und Deine Familie auf dem Weg nach Hause aus der Bahn,
Bernd
hallo bernd,
ich wünsche dir einen tollen “ endspurt “ bis nach hause – und noch viele spenden !!!
deine fotos und den blog werde ich vermissen….
lass dir zeit mit dem „ankommen“ , wenn du wieder zu hause bist – ich habe nach langen reisen immer eine zeit der wieder-eingewöhnung gebraucht…..
herzliche grüße
charlott
Liebe Charlott,
danke Dir, nun ist es soweit und ich befinde mich mit Susanne und Tristan auf dem Weg zurück nach Jülich. Jede Reise findet ihr Ende, sie ist auch der Beginn von etwas Neuem. Zumindest ist sie ein Teil der großen Reise unseres Lebens, und die reichen Erfahrungen solch langer intensiver Reisen nimmt einem niemand.
Herzliche Grüße und bis bald!
Bernd