Ostsee-Umrundung | gesamt 4.767 km
Kalajoki (FIN) – Oulu (FIN) | Tag 63 | heute 148 km | ?
Ich packe meine sieben Sachen und schwinge mich nach einem stärkenden Frühstücksbuffet auf meinen lotusgrünen Flitzer. Das Meer vom Frühstückstisch zu sehen, das habe ich sehr selten gehabt. Folgendes Video von gestern habe ich euch noch vorenthalten.
Ein paar Langläufer auf Rollen passieren mich, ein immer häufigeres Bild. „Sie warten doch nicht etwa auf Schnee?“, frage ich mich.

Als ich einen letzten Blick über Strand und Meer gleiten lasse, wird mir bewusst, dass dies vermutlich die gesamte Strecke bis Oulu das letzte Mal ein Blick auf die Ostsee gewesen sein wird. Zumindest lässt das der Streckenverlauf über die Europastraße 8 vermuten. Zunächst verläuft die Strecke über Radwege, doch bereits einige Kilometer weiter geht es auf den E8 Randstreifen. Es sind noch 129 Kilometer bis Oulu, und irgendwie habe ich mir dieses Ziel in den Kopf gesetzt. So gibt es tatsächlich nichts außer Konzentration auf den Randstreifen und den Verkehr.

Das einzig Schöne sind die Überquerungen der Flüsse, insbesondere auch bei Pyhäjoki.
Abkürzen bedeutet oft eine schlechte Wahl
Von hier aus geht es über angenehme Radwege weiter bis hinter Raahe, wo ich überlege, einen Kaffee zu trinken. Mein Ziel, bis 16 Uhr ? Kilometer zu erreichen, ist jedoch zum Greifen nahe, und so radel ich weiter. Bei Pattijoki muss ich mich entscheiden: Fahre ich über kleine Straßen einen großen Bogen entlang der Küste, jedoch ebenfalls ohne Meerblick. Oder folge ich direkt der E8, die mich weitgehend mit begleitenden Radwegen oder breiten Randstreifen verwöhnt hat. Der Umweg bedeutet 15 zusätzliche Kilometer zu den 140 geplanten, und meist sind es ja eh mehr. Nein, ich entscheide mich dagegen, das wären über 155 Kilometer!
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Der Radweg hört abrupt nach Pattijoki auf, ab hier kommen 40 Kilometer mit knapp 50 Zentimeter breitem Fahrstreifen bei vollem Autoverkehr, teils zweispurig. Wer es liest und nachfährt: lieber die längere Route einplanen und den Umweg nehmen!

Spitzen Radwege von Liminka bis Oulu
Gute fünf Kilometer vor Liminka kann ich endlich die E8 verlassen. Ich atme tief durch und esse die süßen Teilchen, die ich mittags in einem Supermarkt erstanden habe. Sowie die Aprikosen, auf die ich nur einen Preisaufkleber geklebt habe, mit missbilligendem Blick der Kassiererin und einem Augenbrauen-Hochziehen, als sie mir eine Plastiktüte anbietet, ich sie aber ablehne mit den Worten „No, let’s reduce plastic!“
In Liminka dann Staunen: ab hier bis nach Oulu nicht nur hervorragende Radwege, sondern auch eine tolle Radweg-Beschilderung, die keine Wünsche offen lässt.

Meine Couchsurfing Anfrage verläuft auch heute ohne Antwort. So buche ich mich kurzerhand in ein billiges Apartment ein, obwohl das Wetter zelten zuließe. Aber bei großen Städten ist wenig Natur, und Oulu ist die fünftgrößte Stadt Finnlands mit 200.000 Einwohnern. Ich esse noch eine Pizza in einer wirklich guten Pizzeria zu vertretbaren Preisen, bevor ich Richtung Apartment fahre, denn der Vermieter ist erst ab 20 Uhr dort. Dabei komme ich am Fußball Stadion vorbei, in dem gerade die U21 Finnland gegen Norwegen spielt.
Ich fahre durch einen sehr gepflegten, langgezogenen Park über Brücken und bestaune die vielen Angler hier in Oulu, sowie die vielen Paddelboote an den Seiten. Überall gibt es Sportmöglichkeiten. Nachdem es den ganzen Tag heute bewölkt mit leichtem Nieselregen war, reißt nun die Wolkendecke für ein paar schöne Fotos auf.
Seltsame Unterkunft in Oulu
Das Apartment ist seltsam. Der Vermieter ist aus Bangladesh, er vermietet zwei Räume unter, und bietet Küche und Bad zur gemeinsamen Nutzung. Dabei ist erbauch selbst in der Wohnung. Er sagt er macht es eher aus Socializing, er wolle kein Geld damit verdienen, habe aber über Booking eine Plattform, um neue Leute kennenzulernen. Als ich Couchsurfing erwähne als echtes Teilen und Socializing, geht er nicht näher darauf ein und wechselt sofort das Thema.
So wie der andere Gast, ein Österreicher. Er meint zu mir, dass das ja ganz schön mutig sein mit der Radtour und ob ich wirklich denke mit meinem Alter wieder einen Job zu finden. Er kommt so gar nicht klar damit, dass ich etwas nur für den guten Zweck mache. Oh, ein Entmutiger – der erste seit 63 Tagen Tour! Ich glaube ich muss etwas trinken, ich habe bestimmt von den 148 Kilometern ziemlich Falten im Gesicht, so alt muss ich aussehen. Bei soviel Negativität gehe ich lieber duschen, ach nein, das Handtuch in der Hand schlüpft noch schnell der Grazer dazwischen, obwohl er ja sieht, dass ich etwas fertig aussehe. Na, er hatte sicher auch einen anstrengenden Tag, er sondiert IT-Outsourcing für die Österreichische Regierung. Anschließend verschwindet er sofort ins Zimmer.
Bevor das Universum denkt, ich brauche mehr davon, gehe ich auch lieber ins Zimmer und schreibe. Morgen ist das Ziel Kemi. Von dort geht die Strecke ab zum Nordkapp, so dass die Entscheidung dann fällt.
5 Kommentare
Hi,
ich bin aus Graz und arbeite in der IT. Auch war ich bisher nicht mutig genug, mir eine Auszeit zu nehmen und die Welt per Fahrrad zu erkunden…. ABER: Ich bewundere und beneide jeden, der – so wie du – etwas derartiges macht!
Herzliche Grüße und Glüchwünsche!
Ein „Entmutigter“ – die gibt es also auch im hohen Norden. Bernd, Du machst augenblicklich alles, aber auch wirklich alles richtig! Du bist ganz bei Dir, erlebst Dinge, die vermutlich für 2 „entmutigte“ Langeweiler-Leben reichen und füllst Dein Lebenskonto hoffentlich mit unbezahlbarer Zufriedenheit. Der Grazer wird das nicht verstehen und nachfühlen können – niemals. Vertrödel keine Zeit damit, ihm das erklären zu wollen. Achja, lass Dir das Nordkap lieber für eine andere Tour in einer anderen Jahreszeit. Vielleicht wirds ja irgendwann eine zünftige Wabderung mit mir… ?
Lieber Karsten,
Mal wieder super Worte, danke! Exakt zum richtigen Zeitpunkt, auch wenn ich heute erst antworte. Die Netmutiger habe ich in Oulu hinter mir gelassen!
Mit dem Schulle zum Nordkapp – das klingt nach einem tollen Titel! Meine Frau möchte auch Mal hin, und vielleicht lässt es sich mit Norwegen verbinden, das so schön sein soll. Ja, manche Träume sollte man sich bewahren und vielleicht auch zu zweit erleben. Die Entscheidung fällt heute, da ich nur bis Haparanda fahre und einige Kilometer die Straße zum Nordkapp hinauf – ob ich in Versuchung gerate?
Radreiseglückliche Grüße
Bernd
Hallo Bernd,
Nicht entmutigen lassen! Das Schöne bzw. die netten Begegnungen überwiegen ja bisher zum Glück!
Wir sind gespannt wie du dich an der Gabelung („Nord/Süd“) entscheidest. Egal wie – wir freuen uns auf mehr (Meer-) Berichte von dir.
VG (g,t,w!)
Liebe Martina,
danke, ja, durchhalten an den zähen Stellen ist angesagt. Heute letzter Tag für oder gegen das Nordkapp. Ich bin dicht dran, aber ich muss nicht nur 800 km hin, sondern auch zurück.
Wer meinen heutigen Artikel liest, findet schon einige Kommentare zum Thema.
Radreiseglückliche Grüße
Bernd