Jülich nach (nicht ganz) Dijon | Gesamt 556 km
Chaudeney-sur-Moselle (FRA) nach Occey (FRA) | Tag 7 | heute 110 km | 1125 HM | ?
Der Wecker klingelt mich um 8 Uhr aus meinem Schlaf, ein gutes Zeichen dafür, dass ich nach den letzten 400 Kilometern und zig Höhenmetern bei viel Regen nun zunehmend einen Ruhetag brauche. Ich knipse den Lichtschalter an und brauche etwas Zeit, um zu verstehen, dass wohl die Sicherung über Nacht rausgesprungen ist. Aber Smartphone & Co haben es noch geschafft zu laden.
Als ich den Vorhang wegziehe sehe ich erneut Regen. Ich habe heute bis zu meinem Ziel circa 100 km vor mir, die Wettervorhersage verspricht nichts Gutes: Es ist Dauerregen angesagt in Kombination mit 30 km/h Südwind und 60 km/h Böen. Und es gibt weiterhin einige Höhemeter. Zu diesem Zeitpunkt bin ich mir nicht sicher, ob das machbar ist, oder ob ich es in zwei Etappen fahren muss.
Corona und Reisewarnungen
Ich werde nicht ganz nach Dijon fahren, aber es war eine gute Orientierung für meine Tour. Dijon liegt leider innerhalb eines Corona Risikogebiets, für das eine Reisewarnung besteht. Eigentlich ärgerlich, treffe ich doch höchstens abends mal auf einzelne Menschen, immer mit Mundschutz und immer mit Händedesinfektion. Da sind die Franzosen sehr gründlich, ich erinnere mich an die Innenstadt von Metz mit kompletter Mundschutzpflicht zurück. Sie machen das sehr gründlich, fast schon ungerecht, dass sie wieder solch steigende Fallzahlen haben. Olivier meinte, es liegt vor allem daran, dass sie später als Deutschland mit Maßnahmen reagiert haben.
Es nützt aber nichts. Fahre ich in ein Risikogebiet, habe ich zwei Probleme: Ich muss bei Rückkehr nach Deutschland in Quarantäne. Das ist blöd, da ich kommende Woche mit meiner Familie ein paar Tage Urlaub verbringen möchte. Okay, ginge noch in einer Ferienwohnung, aber ich möchte mich ja frei bewegen können. Außerdem fände ich es ganz übel, mit einer Erkrankung im Risikogebiet konfrontiert zu werden.
So liegt mein wirkliches Ziel einige Kilometer nördlich in Grand Est, der letzten Region Frankreichs ohne Reisewarnung. Mein lieber Freund Markus hat mich eingeladen, ein paar Tage in einem Ferienhaus bei ihm bleiben.
Matschige Wege
Ich stärke mich für meinen möglichen Radmarathon beim Frühstück, schmiere mir ein paar Brötchen und packe noch zwei kleine Schokocroissants ein. Dann bepacke ich das Rad und um 10:30 Uhr geht’s los. Die Freude ist groß, es hat aufgehört zu regnen! Ich verlasse ohne Regenmontour Vittel und stehe schnell für eine für Fahrräder gesperrte Straße. Umwege sind immer dann blöd, wenn der Weg eh noch lang ist, und besonders, wenn man dann kurze Zeit später auch noch einen Abzweig zu früh abbiegt. So befinde ich mich schon nach 3 Kilometern auf einem matschigen Feldweg, der Wind bläst mir ins Gesicht, die Reifen finden kaum noch Grip. Die erste Schiebepassage kommt an einem Hügel mit über 15 % Steigung. Ich weiß genau, dass ich meine Ressourcen heute über den Tag strecken muss, um die Strecke zu schaffen. Meine Erfahrung von über 12 Marathonläufen wird mir heute sicher helfen.
Kampf gegen das Wetter
Der Regen setzt ein, und ich ziehe wieder vollen Regenschutz an. Von nun an folgt ein Kampf gegen Wind, Regen und Steigung. Besonders auf den weiten offenen und leicht ansteigenden Flächen fegt mir der Wind den Regen schmerzhaft in Gesicht und Augen. Normalerweise würde ich als Schutz die Sonnenbrille aufsetzen, doch sie ist vermutlich beim Stativ vom zweiten Tourtag. Ich feiere heute, wenn ab und an auf Straßen ein LKW an mir vorbeirauscht und mir für ein paar Sekunden Windschatten spendet.
Selbst für Kühe und Schafe gebe ich in meiner Verhüllung mit Leuchtschuhen und Warnweste wohl ein merkwürdiges Bild ab. Wann immer ich ein Foto von ihnen machen möchte, rennen sie spätestens dann davon. Das machen sie sonst nie, erinnert ihr euch an den Königsreiher bei Cattenom vor ein paar Tagen?
Gegen 14 Uhr habe ich meinem Freund zugesagt eine Prognose abzugeben. 40 km hatte ich vor im Sack zu haben, 36 km sind es zu dem Zeitpunkt. Ich liege bei einem Schnitt von nur 10 km/h. Die Rechnung ist einfach, ich werde nicht vor 21 Uhr dort sein können, das bedeutet knapp 11 Stunden auf dem Rad bei einem Wetter, bei dem sich selbst die Hofhunde in ihren Hütten verkriechen. Und knapp 2 Stunden Fahrt in der Dunkelheit. Ich mache eine kurze Pause in einem kleinen offenen Schutzhäuschen, das sogar einen Kamin hat, kündige meine voraussichtliche Ankunftszeit an, und fahre weiter. „Irgendwelche Wünsche fürs Abendessen?“, bekomme ich eine Nachricht aufs mein Garmin GPS gespielt. „Egal, was zum Essen, eine warme Dusche und vielleicht doch etwas: Ein leckeres Bier!“
Schlechte Sicht
Nach Passagen bergauf folgt immer die Belohnung bergab. Aber immer wieder macht der Wind einen Strich durch die Rechnung und bremst mich wie schon am Vortag auch bergab auf unter 20 km/h. Die Böen sorgen dafür, dass es mühsam ist die Spur zu halten, denn mit den großen Flächen der Taschen bin ich ein Brett im Wind. Ich erreiche einen wichtigen Punkt bei 55 km und überschreite die Hälfte der Tageskilometer. Durch den Umweg heute Morgen sind es nun tatsächlich 110 km. Wind und Regen geben nicht auf und werden immer heftiger, teils kann ich kaum die Augen offen halten, wenn ich wieder eine Fuhre Regentropfen hinein bekomme.
Das Telefon klingelt. Mein Freund Karsten heitert mich auf und fragt mich, was ich gerade sehe. „Dunkelgrauen Himmel, graue diesige Hügel, eigentlich alles in bunten Grautönen“, sage ich. Das bringt mich auf die Idee, euch heute einige s/w Fotos zu kredenzen. Neue Inspiration durch einen kleinen Anruf, wie schön!
Bei Kilometer 64 setzt mir das Wetter an einer Steigung so sehr zu, dass ich laut und zugegeben etwas verzweifelt rufe: „Fuck you, Wind, lass mich einfach in Ruhe!“ Er wirft mich mit einer Böe stattdessen trotzig seitlich in die Fahrbahnbegrenzung. Ich halte kurz an und atme durch.
Ich beginne mir psychologische Marken zu setzen: Bei 39, 29, 19 und 9 Restkilometern werde ich für eine kurze Verpflegung anhalten. Es gibt an der befahrenen Straßen allerdings keine guten Haltepunkte, so kommt der erste Halt erst bei 36 Restkilometern. Nicht schlimm, so adaptiere ich auf 26,16,6. Das hört sich direkt noch besser an! Es gibt ein Schokocroissant für neue Energie.
Die Sicht nach hinten
Ein Auto rauscht mit hohem Tempo über 100 km/h dicht mit knapp 2 Meter Abstand an mir vorbei, obwohl es keinen Gegenverkehr gibt, ich bekomme einen mächtigen Schrecken und fluche laut. Nicht ungefährlich bei dem böigen Wind. Und es fällt mir schwer, die Autos frühzeitig zu hören, denn der Wind zerrt laut an Kapuze und Helm. Ich bin weithin sichtbar, denn ich habe Licht an und trage neben meinen neongelben Schuhüberziehern eine orangene Warnweste. Später bin ich froh, als es dunkel wird, denn so sehe ich die Autos von hinten besser kommen.
Dabei fällt mir ein, dass es mittlerweile auch ein Radar-Warnsystem für Autos von hinten fürs Rad gibt. Mensch, denke ich, dass wäre es doch. So mache ich mich später am Ziel angekommen auf die Suche. Und hier ist es, kompatibel zu den Garmin Edge Geräten, einigen Wearables und einer Smartphone App: Das Garmin Varia Radar mit integriertem Rücklicht!
Im Windkanal
Bei Restkilometer 26 gibt es ein Schinkenbrötchen. Unter 30 Kilometern ist eine für mich sehr denkbare Differenz, denn es ist ungefähr die Distanz von meinem Elternhaus zu meinem Wohnort. Es geht jetzt streng Richtung Südwest, und ich fühle mich wie in einem Regen-/Windkanal. Es ist dunkel geworden, und ich sehe nur noch den Lichtkegel meines Scheinwerfers. Jetzt bloß keine Panne, denke ich mir. Ich folge den Rücklichtern eines überholenden Autos und es fährt scheinbar endlos einen Anstieg hinauf. Kurz vor der Anhöhe ist der Wind so stark, dass ich abermals ins Seitengrün geblasen werde. Noch knapp 20 km, die schaffe ich jetzt auch noch. Eine Unterkunft gibt’s hier eh nicht, und zu diesem Zeitpunkt habe ich absolut und überhaupt gar keine Lust, morgen wieder im Regen zu radeln. Nein, auf keinen Fall!
Restkilometer 16, Schokocroissant. Es raschelt in meiner Regenjacke. Ach ja, da ist noch ein Keks aus einem Hotel drin. Den gibt’s bei Kilometer 10 als Extra Belohnung. Kilometer 6, es gibt zwei Hand voll getrockneter saftiger Aprikosen – pure Energie.
Was gibt es über einen solchen Radreisetag zu sagen? Nur, dass man natürlich selbst dafür verantwortlich ist, was man sich antut. Wer mich kennt, der weiß, dass ich auch schon einmal gerne meine Grenzen austeste. Diese Fahrt zählt sicher zu den Top 5 meiner Grenztests über meine Limit hinaus. Ist es dem Körper zuträglich? Nein, mit Sicherheit nicht. Und doch hat es einen seltsamen Reiz auf mich, zu wissen was der menschliche Körper leisten kann, Und wenn es übers Limit hinausgeht, was der Geist imstande ist dagegen zu halten.
Es war also kein Tag einer schönen Radreise mit hübschen Bildern fürs Gemüt. Das kann man wollen, muss es aber nicht. Und es geht wie im richtigen Leben nur mit einem Ziel vor Augen.
Es ist 20:57 Uhr, als ich im hübschen Zielort entlang alter Mauern ankomme. Mein Freund Markus empfängt mich am Markt. Er ahnt wohl, welchen wilden Ritt ich heute hinter mir habe, und wir nehmen uns mit Tränen in den Augen in den Arm. Es gibt eine warme Dusche und frische Nudeln mit einer phantastischen Sauce und Hühnchen.
Und da steht es bereit: Mein kaltes leckeres Bierchen, es schmeckt gut wie nie! Danke, Markus, you made my day!
2 Kommentare
Respekt, das ist wohl eine mentale Superleistung, und körperlich auch, Und die Fotos sind trotzdem schön, ich gucke sie ja im warmen Wohnzimmer … dann sieht die Welt hoffentlich jetzt, gut 24 Stunden später wieder gut aus.
Das hatte ich mir auch gedacht, doch 24 h später war ich hundemüde und dachte ich werde krank. Das waren wohl noch die Auswirkungen vom Vortag, sowohl von dem harten Tourtag, als auch von einer ausgiebigen und langen Begrüßung bei meinem Freund Markus. Am nächsten Morgen sah die Welt jedoch schon wieder viel besser aus, und ich habe ein paar schöne Tage verbracht – um natürlich direkt wieder auf mein lotusgrünes Rad zu steigen gen deutscher Grenze! Radreiseglückliche Grüße!