Ostsee-Umrundung | gesamt 2.966 km
Liimala (EST) – Narva (EST) | Tag 40 | heute 102 km | ?
Um 9 Uhr ist alles gepackt und das Zelt halbwegs trocken. Wirklich ein toller Platz, auch wenn er nur ungefähr 300 m von der Hauptstraße entfernt liegt. Zuerst dachte ich, dass es stören würde, aber es war eine ruhige Nacht. Ich komme etwas von der Route ab und sehe an der Hauptstraße ein kleines Café. Das Kohvik Varna knapp 10 km vom Platz entfernt stellt sich als echte Überraschung heraus. Es hat nicht nur ab 8 Uhr geöffnet, sondern bietet auch eine breite Auswahl an süßen und herzhaften Gebäck-Leckereien.
Fahrradinteressierte Estländer
An einem Hotel mit einem Aussichtsturm treffe ich auf eine Gruppe netter Estländer. Sie sind so nett und machen ein Foto von mir. Außerdem sind sie sehr interessiert an meiner Fahrradtour und an meinem Fahrrad. Sie fragen wie Fahrradfahren in Estland ist, und ich erzähle begeistert von den Straßen und Fahrradwegen, sowie den Möglichkeiten auf den RMK Plätzen an den schönsten Stellen der Ostsee zu zelten. Eine der jungen Damen bekommt im Oktober ihr Baby, ich erzähle von unserem Enkel Milan, und dass ich gerade in Deutschland war
Sie geben mir noch den Tipp einmal nach Michael Cramer zu schauen, der im Europaparlament sitzt und einem meiner sympathischen Gesprächspartner in Brüssel und Strasbourg oft vom Iron Curtain Trail, dem EV13, erzählt. In der Tat ist er auf seine Initiative zurück zu führen: Iron Curtain Trail.
Außerdem befindet sich an dem Turm eine Gedenkstelle für die deutschen Aussiedler, die während der Kriegswirren in zwei Wellen Estland verlassen haben.
Das baltische Kliff
Ich fahre weiter und die Straße führt atemberaubend schön parallel zur Küste auf dem über 50 Meter hohen baltischen Kliff von Valaste entlang. An dieser Stelle verläuft es ununterbrochen 23 Kilometer mit einer Höhe von bis zu 56 Metern. Das baltische Kliff ist mit einer Gesamtlänge von insgesamt 1.200 Kilometern eines der längsten ununterbrochenen und vollständigen Kliffs der Welt. Es beginnt in Schweden und verläuft nach Russland bis zum Ladogasee. Übrigens: Die drei höchsten Wasserfälle des Baltikums, Valaste (30 m), Kivisilla (21 m) und Karjapru (18 m) verlaufen in der geschützten Ontika Landschaft, in der sich auch das baltische Kliff befindet, das eins der Nationalsymbole von Estland ist.
Sillamäe
Bevor ich mein Ziel Narva erreiche, komme ich zunächst noch nach Sillamäe. Ich verfahre mich leicht und passiere riesige Silos. Dann komme ich in die Mitte der Stadt, die eine tolle Häuserallee zum Meer hat. Sie ist allerdings etwas in die Jahre gekommen. Der Kontrast zwischen den alten tollen Gebäuden und dem Rest der industriell geprägten Stadt macht mich neugierig, so dass ich ein wenig recherchiere.
Die Stadt war im 19. Jahrhundert ein mondäner Badeort mit vielen Villen. Er war der Erholungsort für die Oberschicht aus St. Petersburg. Die Nationalsozialisten errichteten in der Nähe Konzentrations- und Arbeitslager. Im Sommer 1944 gab es in Sillamäe wochenlange heftige Gefechte zwischen Wehrmacht und Roter Armee.
Die geheime Stadt
Unter höchster Geheimhaltung gab es ab 1948 eine Urananreicherungsanlage für AKW und Nuklearwaffen. Noch immer gibt es im Nordwesten der Stadt ein 33 Hektar großes nuklear verseuchtes und giftiges Gewässer. Nun, ich sitze gerade einen Kilometer entfernt, verrückt. Die nuklearen Projekte wurden so geheim gehalten, dass die geschlossene Stadt nicht einmal auf offiziellen sowjetischen Landkarten auftauchte, Ausländer bekamen nur unter strengsten Sicherheitsauflagen Zutritt. Es gab sie quasi nicht, Post wurde nur an codierte Adressen geschickt. Übrigens sind 86% der Einwohner Russen, was sich auch sprachlich abzeichnet. Vieles ist parallel in russisch geschrieben, ich höre auch kaum mehr estländisch.
Das steigert sich auf dem Weg nach Narva noch. Ich mache eine kurze Pause mit zwei Eistee im Badeort Narva-Jõesuum. Hier sieht es am Strand eher aus wie in den Niederlanden. Zwei Kilometer weiter ist die russische Grenze. Fast wäre ich nochmal ins Meer gesprungen, aber ich will mein Rad nicht alleine lassen und nicht zu spät nach Narva.
Die letzten 14 Kilometer führen dann entlang des Grenzflusses Narva, der Estland und Russland trennt. Auf der anderen Seite sind russische Boote und ein Überwachungsturm mit Radar zu sehen.
Ich komme nach Narva, wasche mein Zeug, und breite mein Zelt im Zimmer zum Trocknen aus. In Russland plane ich nicht zu zelten. Es soll zwar geduldet sein, aber ich möchte mich nicht mit den russischen Behörden anlegen. Campingplätze gibt es kaum, so dass ich auf günstige Hotels gehen werde. Da soll das Zelt nicht unnötig feucht sein.
Im Aufzug des Hotels treffe ich Oskar aus Deutschland. Er ist mit Kollegen als Testwagenfahrer unterwegs für verschiedene Autofirmen. Sie versuchen die Autos in Russland unterzubringen, aber die russische Bürokratie macht es ihnen nicht einfach. Oskar hat 10 Jahre als Koch gearbeitet, aber irgendwann musste es nochmal etwas anderes sein. Mit dem Testwagenfahren kommt er als gelernter KFZ Mechaniker viel rum und lernt andere Länder kennen. Er findet unsere Tour toll und lädt mich auf ein Bier ein, nachdem ich gegessen habe. Es ist das erste mal auf der Tour, dass ich schweren Herzens ablehne, denn ich habe noch nichts von der Stadt gesehen. Vielleicht klappt’s morgen noch beim Frühstück!
Narva ist mit seinen 56.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Estlands. Sie war im Laufe der Jahrhunderte heiß umkämpft, ähnlich wie Tallin. Im zweiten Weltkrieg wurde sie fast komplett zerstört, wieder aufgebaut wurden nur wenige Gebäude wie die Herrmannsfeste.
So folge ich dem sehenswerten Fußweg entlang der Narva, der unter der Grenzbrücke durchführt. Diese ist von allen Seiten mit hohen Zäunen abgeriegelt. Es erinnert mich ein wenig an die DDR, und ich wünschte so sehr Tristan wäre jetzt hier. Die ist einer der Momente, auf die ich mit ihm hingefiebert habe. Morgen wird es mich sicher nochmal bewegen, wenn ich alleine die Grenze überquere.
Ich gehe hinauf zur Herrmannsfeste und schaue hinüber zur Festung von Ivangorod. Sie liegen sich genau gegenüber. Auf beiden Seiten stehen Angler im Wasser und fischen. Ich befinde mich an der EU Außengrenze, und der Ort macht es mir sehr bewusst, viel mehr, als es vor der Oblast Kaliningrad war.
Morgen verlasse ich die EU und komme auf mir unbekanntes Terrain. Moment, unbekanntes Terrain, da befinde ich mich seit über einem Monat jeden Tag! Schon, aber Russland ist doch nochmal etwas fremder, und mein Respekt vor den Hundeattacken bleibt.