Ostsee-Umrundung | gesamt 2.121 km
Svētciems (LVA) – Pärnu (EST) | Tag 27 | heute 91 km
Am Morgen wache ich nach einer fast komplett durchgeschlafenen Nacht auf, das Zelt ist beinahe trocken, und ich erkundige mich kurz, ob es ein Frühstück gibt. Für 3,15 Euro lohnt es sich nicht den Kocher herauszuholen und es gibt um kurz nach 9 Uhr von Linda, die einen prima Job dort macht, eine großartige Grundlage für den Tag. Blog, Newsletter und die vielen herzlichen Kommentare nehmen viel Zeit in Anspruch, so dass ich schließlich erst gegen 12 Uhr aufs Rad komme und gespannt der Grenze von Estland entgegenfahre. Tristan ist gestern gut in Deutschland angekommen und radelt heute im Geiste mit mir.
Nach knapp zehn Kilometern quere ich die Salaca. Wie immer fällt mir der starke natürliche Schilfbewuchs in den in die Ostsee mündenden Flüssen auf.
Nach 21 Kilometern Gegenwind lege ich kurz vor der estnischen Grenze eine Pause an der orthodoxen St. Arseniy Kirche aus dem Jahr 1895 ein, die direkt am EuroVelo10 liegt.
Eine Sache der Perspektive
Ein Radreise Pärchen mit zwei schönen Surly Randonneuren, er aus Finnland und sie aus den USA, geben mir einen Tipp, wie ich in Estland die viel befahrene Hauptstraße umgehen kann, ohne einen großen Umweg zu machen. Sie wollen weiter Richtung Bosnien, und haben ungefähr vier Monate Zeit. „Oh“, sage ich, „noch so eine lange Radreise!“ Die beiden antworten mir: „Nein, eigentlich eine kurze, unsere letzte war zweieinhalb Jahre!“ Ich muss lachen, es ist halt immer eine Sache der Perspektive.
Estland
Einen knappen Kilometer weiter an der Grenze von Lettland zu Estland lege ich direkt die nächste Fotopause ein. Die Überquerung der Ländergrenzen ist halt immer etwas ganz besonderes. Es ist das erste Land, das ich nun ohne Tristan bereise.
An einer kleinen Bäckerei stehen zwei weitere Reiseräder. Die dazugehörigen Menschen sitzen neben der Bäckerei. Sie sind Schweizer, aber irgendwie scheinen sie keine Lust auf Kommunikation zu haben. Das sei ihnen gegönnt und so fahre ich rasch weiter. Ich folge dem Tipp der beiden anderen Radreisenden und finde eine auf den nächsten 25 Kilometern fast autofreie Straße vor. Ich zähle 12 Autos, zwei Motorräder und einen Bus.
Abends in Pärnu beschließe ich bei knapp über 90 km einen Campingplatz zu suchen. Ich fahre einen neuen Radweg entlang der aufgeräumten Strandpromenade entlang. Der kleine Platz hinter einem Haus weiter in der Stadt ist randvoll mit Zelten. Zu voll, ich entschließe mich weiterzufahren. Ich fahre durch die Stadt, verlasse meine Route, und esse in einem Restaurant etwas frustriert zu Abend.
Ein Angebot zur rechten Zeit!
Es ist schon 19 Uhr durch und ich habe keine Lust, später noch im Dunkeln zu kochen. Um kurz auf Toilette gehen zu können, spreche ich das vertrauenswürdig aussehende Paar am Nachbartisch an, ob sie kurz auf meine Tasche aufpassen können. Als ich zurückkomme, kommen wir kurz ins Gespräch, und ich erzähle ihnen, dass ich aus Deutschland bin, und die Stadt gleich auf der Suche nach einem Nachtlager wieder verlassen werde, weil der Campingplatz voll war. Dann bieten sie mir an, dass ich mein Zelt in ihrem Garten aufbauen darf!
Wow, das kommt zur rechten Zeit! Ich freue mich sehr, und so fahren wir kurz danach zu ihrem Haus, das gerade einmal 500 Meter entfernt vom Strand liegt. Ich darf sogar Dusche und Toilette im Außenbereich nutzen. Kurze Zeit später bietet mir Margus einen Gin Tonic an. Wer mich kennt, der weiß, dass das ein Volltreffer ist. Aus einem Gin Tonic werden zwei. Margus und seine Frau Kaja sind begeisterte Harley Davidson Biker. Ihre Maschine ist sogar mit hunderten Swarovski-Kristallen verziert. Kommende Woche wollen sie eine Motorradtour Richtung Bosnien starten. Die beiden leben ihre Motorrad-Leidenschaft, und überall sind Dinge zu sehen, die mit Motorrädern zu tun haben.
Wir reden viel über Estland und die Unterschiede zwischen den baltischen Staaten. Noch zu sowjetischen Zeiten war Estland schon westlich orientiert. Das hängt unter anderem mit der Nähe zu Finnland zusammen. So wurde auch finnisches Fernsehen empfangen. Mit der Selbständigkeit Estlands kamen viele Finnen und investierten ihr Geld in Estland. Auch die estländische Sprache unterscheidet sich zu den anderen baltischen Staaten und ist finnisch geprägt. So erlebe ich Estland aufgeräumt, gepflegt und progressiv, deutlich mehr als Litauen.
Aus einer Einladung wird eine Freundschaft
Kaja lädt mich ein zu sehen wie sie wohnen, und sie zeigt mir viele historische Stühle und Schränke in ihrem Elternhaus. Es ist alles sehr geschmackvoll eingerichtet. Geschmackvoll geht es auch draußen weiter, denn Margus zieht alle Register bis zum Wodka aus Ungarn. Mit jedem Wodka sage ich meinen Trinkspruch „minus ten Kilometers tomorrow!“, und am Ende bin ich deutlich im Minus Bereich. Er macht übrigens einen interessanten Job und entfernt Wasserpflanzen und Schlick aus Flüssen und Seen, wenn sie verkrauten. Das passt zu meiner Beobachtung, dass ganz viele Flüsse und Seen hier noch sehr natürlich sind. Dazu benutzt er einen ‚Truxor Multi Functional Amphibian‚. Ein irres Teil.
Sie erzählen mir auch noch vom Roboterfahrzeug ‚Cleveron pakirobot‚, das in Tallin und einer weiteren Stadt bereits vollautomatisch Pakete ausgeliefert. Okay, ja, Estland ist definitiv progressiv!
Zwischendurch erscheint ihr Sohn Edgar, der in Tallinn lebt und als Producer arbeitet. Wir kommen gut zurecht, und Edgar bietet mir an, dass ich in Tallinn bei ihm bleiben kann, wenn ich möchte. Das könnte auch die Lösung sein, wenn ich zur Geburt meines Enkelkinds für ein paar Tage nach Deutschland fliege – es ist schon ganz bald soweit!
Um kurz vor 2 geht’s ins Zelt und ich tippe folgende Nachricht an meine Frau: „OMG , si xvi ollke wage ich lsbhebjic nicht.“ (Übersetzung: „OMG, so voll war ich lange nicht.“). OK, tippen geht also nicht mehr! Ich frage mich, wie ich morgen 100 km fahren möchte, und schlafe rasch ein.
4 Kommentare
.. hast du die Nachricht denn abgeschickt oder sie vorher doch lieber gelöscht???
bis auf die nächtliche Tippstörung klingt es bei dir soch wieder recht gut!
Ich hab sie tatsächlich abgeschickt!
Vermisse Tristan sehr, aber Radfahren auf Saaremaa ist sehr schön!
Alles richtig gemacht! Man muss sich auch mal etwas gönnen…
Und wie du siehst, so ganz alleine bist du nicht! Es gibt so viele nette, hilfsbereite Menschen überall!
Gute, entspannte Weiterreise!
Vor mir hängt gerade ein Spruch an der Wand: I will be grateful for this day.
Ich bin sehr dankbar, das Tristan dabei war. Und ich freue mich, dass ich heute und morgen auf der tollen Ostsee Insel Saaremaa radeln darf!