Putte (B) – Vrouwenpolder (NL) | Heute 95 km | Gesamt 291 km
Es war schön, nachts dem Wind zu lauschen, der durch die großen Laubbäume des Parks streichelt. Leider hat es die Nacht durchgeregnet, ab 5.30 Uhr begleitet uns zwei Stunden lang kräftiger Regen. Man muss aufpassen, dass die Öffnung der Kapuze des Biwaks sehr dicht ist und nach unten zeigt. Tristans Schlafsack ist total nass. Seine ersten Worte: „Da hätte ich mich auch ohne das Schwitzding in den Regen legen können!“
So pellen wir uns dann um 8 Uhr wie zwei Würmer aus der Hülle. War es wirklich ‚Kondensschweiß‘, oder war es Regen? Wir wissen es nicht. Wir lernen: ein Tarp ist beim Biwakieren unumgänglich, es schützt genau vor solchen Katastrophen. Es ist offensichtlich: Wir bekommen den Schlafsack heute nicht mehr trocken, wir müssen es bis zur Küste schaffen, das sind dann nochmal 90 Kilometer.
Kein guter Start in den Tag. Das Frühstück besteht aus ein paar Keksen und Waffeln mit Wasser. Es regnet weiter leicht, als wir aufbrechen, mit Regenschuhen an, wie beinahe immer auf der Tour. Wir müssen erst einige hundert Meter durch den Park gehen, und als ich anmerke, dass die Überschuhe davon kaputt gehen, kippt die Stimmung. Es wird bis zum Mittag dauern, bis wieder die erste Kommunikation einsetzt.
Ich denke nur: Ich brauch nen Kaffee!!! Frühstück soll es nach Plan im nächsten Ort an der Strecke geben.
Westerschelde Regenfahrt
Wir freuen uns schon auf eine Nacht im Bettchen statt im Biwak, und so geben wir nochmal alles. Ich kann schon nach 10 km nicht mehr sitzen. Wie habe ich auf dem selben Sattel bloß früher 1.000 km pro Monat zurückgelegt?
Wir fahren über Stabroek durch die Vororte nördlich von Antwerpen, direkt entlang der Autobahn und erkennen eine Stelle unter einer Brücke, an der wir auch mit dem Auto auf unseren Urlaubsfahrten vorbeikommen. Weiter geht es entlang eines riesigen Chemie-Komplexes von BASF, die Ausmaße mit eigenen Bahngleisen werden per Rad richtig deutlich. Durch dichte Nebelschwaden der Kessel, die der Wind auf den Radweg drückt, fahren wir weiter. Wir queren den Schelde-Rijn Kanaal, und sind wieder in den Niederlanden.
Dann endlich der magische Moment: Wir stehen am Meer! Ok, bei Regen sehr getrübte Sicht, aber neue Motivation durch das nun erreichte Meer, und uns begleitende große Schiffe. Am Horizont fünf Kilometer entfernt das AKW Doel, neben Tihange das zweite kritische Risse-AKW.
Westerschelde
Der Blick auf die Westerschelde, das Gefühl mit dem Rad von zu Hause aus einfach biwakierend bis zur Nordsee gefahren zu sein, die Schlichtheit der Reise. All das ist überwältigend und lässt uns den Groll des Morgens vergessen. Wir fühlen uns motiviert auf der Suche nach einem echten Frühstück. Die Motivation brauchen wir auch, denn ab jetzt heißt es: frontaler Gegenwind Richtung Nordwesten direkt an der Westerschelde. Sie ist übrigens der südlichste niederländische Meeresarm.
Der sehnliche Wunsch nach einem Frühstück weicht am frühen Nachmittag dem Wunsch eines Lunchs, nachdem partout kein Ort mit einem Geschäft auftauchen will. Nicht – ein – einziger!
Wir werden mit einem kurzen Gruß von einem Reiseradler auf einem Randonneur überholt, der eindeutig mehr PS in seinen Beinen hat und mit seiner niedrigeren Rennradhaltung deutlich weniger Widerstand erfährt. Als wir endlich im Ort Waarde einen Supermarkt finden, steht er längst mit einem Snack davor und lächelt. Wir kaufen unseren Lunch und kommen ins Gespräch. Er macht bereits seit drei Wochen eine Rundfahrt durch die gesamten Niederlande und ist auch sonst auf vielen Radreisen unterwegs. Sprach er und verschwand, damit er sein Tagespensum von 150 km noch schaffen kann. Staunend schauen wir hinterher. Appelflapjes, Bananen und Vanille Vla versüßen uns den Mittag! Rezept: Schluck Vla direkt aus der Packung in Mund kippen, Hand Schokoraspeln hinterher werfen.
Nach der Stärkung queren auch wir kurze Zeit später entlang der künstlichen Schifffahrtstraße „Kanaal door Zuid Beveland“ nördlich Richtung Oosterschelde. Der Regen hat aufgehört, erste Sonnenstrahlen wärmen uns auf.
Seltsame überdimensionale doppelte Golfbälle tauchen am Horizont auf und wir fragen uns, was das ist. Es ist eine Installation des Künstlers Michael Beutler: „Polderpeil„. Sie zeigt dem Betrachter die Höhe des Meersesspiegels, wenn das Meerwasser nicht durch Deiche gestoppt wäre. Zwei weitere dieser insgesamt 8 Kunstwerke in Sichtweite vermitteln einen Eindruck davon, wieviel Land die Niederländer hier dem Meer abgerungen haben. Wir fragen uns, wie sich das Bild mit dem Klimawandel wohl in 50 Jahren verändert haben wird.
Der seit dem Morgen ersehnte Frühstücks-Kaffee dann gegen 16 Uhr am Goese Sas. Muss man halt mal flexibel sein!
Tipp: Eine kleine Überraschung bringt der kleine Ort Goese Sas mit sich. Er hat einen überraschend schönen kleinen Hafen und ein paar gemütliche Cafés, unter anderem das SAS1 mit leckeren hausgemachten Kuchen und (auch veganen) Suppen, Bio-Tees und -Säften zu moderaten Preisen. Einen wirklichen Ausflug wert und nicht touristisch überlaufen.
Überraschung!
Tristan entwickelt plötzlich den Wunsch nach einer anderen Route. Er hat auf seinem Handy einen konkreten Weg. Eh ich mich weiter wundere, queren wir kleine Wege, mitten über einen Bauernhof, und plötzlich verstehe ich: Wir stehen vor einer Holzbrücke. In den letzten 20 Jahren musste sich meine Familie auf wirklich jeder Autofahrt anhören, dass ich diese im Urlaub mit meinem Rennrad überquert habe. Nun stehen wir davor und lachen. Damit hat er mir eine unglaublich große Freude gemacht!
Am Ziel
Als wir schließlich die Oosterschelde bei Colijnsplaat erreichen, kommt das, was auf jeder Radreise Richtung Ende eintritt: Wehmut. Wir können in 15 km Entfernung das Sturmflutwehr Neeltje Jans am Horizont sehen und wissen, dass wir in ca 45 Minuten an unserem Ziel sein werden. So setzen wir uns nochmal auf eine Bank, das Wetter ist mittlerweile gut. Wir lassen den Blick über die Oosterschelde streifen und den Moment dankbar auf uns wirken.
Wir radeln die letzten Kilometer sehr entspannt, und schließlich nimmt uns um 19:45 Uhr unsere Familie am Deich zwischen Veerse Meer und Nordsee mit einem leckeren Imbiss in Empfang – zur Auffüllung der leeren Kohlenhydrat Reserven. Großen Respekt an Tristan, der echt super durchgehalten hat und ein echter Abenteurer ist!
Wir haben viel zu berichten. Gesamt: 291 km in 3 Tagen in 3 Ländern!
Der Radreiseglück-Funke ist entfacht!